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Die Stille nach den Schüssen

Die Stille nach den Schüssen

Intellektuelle Analysen der Gewalttaten in Israel sind vielleicht nur ein Mittel, um die eigene Ratlosigkeit nicht eingestehen zu müssen und den Schmerz zu verdrängen.

Wenn man dich jetzt fragt, in diesen Tagen nach dem 7. Oktober 2023, „Wie hältst du es mit Israel? Mit den Juden, mit den geschändeten Kindern? Wie hältst du es mit dem Triumphgeschrei der Antisemiten unserer Tage, in denen sich der Judenhass vergangener Zeiten wiederholt? Wie hältst Du es mit der Hamas?“, dann will ich dich nicht allein lassen in deiner Not, zu antworten, in einer Situation, in der uns doch allen die Worte fehlen.

Es ist manchmal gut so, wenn Worte fehlen. Mir fehlen sie im Grunde auch. Mein leiser Mut, dir in der Stille doch nahe zu sein oder gar beizustehen, kommt aus der liebenden Erfahrung eines alten Seelsorgers, der angesichts des Grauens und der Katastrophen nebenan und auch anderswo in dieser Welt das Schweigen als Antwort erst lernen musste. Ich lernte es vor allem auch bei den Juden, bei Hiob und an den Wassern von Babylon.

Wie die Freunde des Hiob, dessen Kinder mit Vorsatz ermordet wurden, musst du dich erst einmal wortlos in die Asche setzen, wo sich da und dort noch Spuren von Blut befinden. Setz dich. Mach dich klein. Geh zu Boden. Höre das Schreien. Nimm das Klagen auf. Weigere dich, diesen Schmerz auf irgendeine Mühle des Verstehens und Deutens zu leiten. Sei still! Sei Mensch! Sei Schwester, sei Bruder! Sei Vater, sei Mutter! Lauf nicht weg!

In der Zeit unendlicher Trauer, grenzenlosen Schocks und des Zusammenbruchs der Welt gibt es keine vornehmere Aufgabe für uns alle, als bei den Trauernden und Schreienden zu bleiben. Wortlos. Nur da sein, mit ganzem Herzen.

Unter Tränen ihre Tränen sehen, in der Stille ihre Schreien aushalten, ihre Flüche hören, das Reißen der Kleider, die Vorboten des Wahnsinns — und dann auch ihren Zusammenbruch ahnen. Es geht nicht mehr! Und dann, wenn die Wut kein Ende zu nehmen scheint, auch diese zulassen, selbst die Rachegedanken der von ihrem Schmerz Überwältigten.

Wer bleibt denn schon bei Sinnen, wenn er erfährt, dass man seine Liebsten geschändet, ermordet, geschlachtet und bei lebendigem Leibe verbrannt hat? Das übersteigt doch alles, was man bisher meinte, ertragen zu können. Die Welt ist aus den Fugen! Das ist sie auch bei mir.

Und so gibt es nichts zu tun, als nur zu bleiben. Wenn du bleibst und nicht redest, wenn kein falsches Wort aus deinem Mund kommt, dann bist du der Restposten einer zum Untergang bestimmten Menschheit und Menschlichkeit.

Es gibt nichts zu sagen. Es gilt jetzt nur, zu bleiben und auszuhalten. Ich bin da. Ich bleibe bei dir. Ich versuche, treu zu sein. Trost zu sein. Und komme mir jetzt ja keiner damit, das Geschehene irgendwie einordnen zu wollen. Das will niemand wissen, verdammt noch mal! Du weißt es doch nicht besser! Das tust du doch nur, damit der Schmerz der Verzweifelten nicht an dich herankommt, damit dein Herz nicht vollläuft und überfließt. Also schweige. Das Schweigen macht dein Menschsein aus. Höre die Klage Israels!

Du bist vielleicht ein Restposten der Menschlichkeit. Aber der Restposten wird sich still als vielleicht nur vorübergehender Halt in einen Vorposten der Liebe unter den Menschen verwandeln. Wer denn sonst? Der stille Tröster wird helfen, bei Trost zu bleiben und nicht verrückt zu werden, nicht Amok zu laufen, nicht außer sich, sondern vielmehr ganz bei sich zu sein und zu bleiben, bis der Betreffende — erschöpft und am Boden, aber getröstet — mit der Zeit wieder in seine Mitte zurückfindet.

Rede nicht! Schweige! Relativiere nicht, ordne nicht ein, tu nichts von dem, wozu es dich jetzt drängen mag! Es sind alles nur Versuche, das Grauen nicht aufnehmen und einatmen zu müssen.

Das alles braucht Zeit, die zwar die Wunden nicht heilt, aber doch dafür sorgt, dass es dich nicht zerreißt in deinem Schmerz. So kannst du deinen Toten nahe sein.

Und während du so dasitzt wie die Freunde des Hiob und schweigst, sollen andere mit anderen Talenten dafür sorgen, dass die unmittelbare Gefahr gebannt wird. Das kann die Polizei sein, das Militär oder wer auch immer! Wir brauchen in dieser Zeit ohne einen Boden unter den Füßen, ohne einen Himmel über dem Kopf und eine Heimat für die Seele Menschen, die uns in dieser wehrlosen Trauer schützen. Schützen sollen sie uns und nicht rächen!

Denn Rache ist selbst ein Blutrausch. Sie schmeckt vielleicht süß, aber sie führt in den Abgrund. Die Wurzeln des Judentums kennen ein Gesetz für unseren Umgang mit Situationen großer Not. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, heißt es. Diese Regel wurde von Christen oft als unzureichend oder gar grausam empfunden. Zunächst aber war sie als Schutz gedacht gegen noch Schlimmeres „Auge um Auge“ — aber auch nicht mehr! Alles, was darüber hinausginge, wäre von Übel, wäre bloße Rache, die eine Droge ist und wegführt vom Weg des Lebens. Ist dieses alte Maß „Auge um Aug, Zahn um Zahn“ schon erfüllt in diesen Tagen? Oder ist Vergeltung darüber hinausgegangen? Es ist nicht an dir, darüber zu entscheiden. Du bleib bei den Geschundenen, rechne nicht auf, schweige.

Aber die, die die Trauernden jetzt schützen müssen in ihrem Schrecken, in ihrem Schockzustand, die müssen darüber entscheiden. Und die haben in ihrer heiligen Tradition diesen Anker, der ihnen sagt, was Gut und Böse ist.

Mehr ist in diesen Tagen der unendlichen Trauer nicht zu tun. Schützt die Trauernden! Verschafft ihnen die Zeit, getröstet zu werden und sich trösten zu lassen.

Still sitzen sie an den Gräbern, wollen nicht weichen, um ihre ermordeten Liebsten nicht einmal mehr allein zu lassen. Sie wollen lauschen nach einem letzten Gruß, einem letzten Wort. Und in dieser Stille ihrer Erschöpfung hören sie aus den frischen Gräbern — soweit meine Erfahrung mich legitimiert, euch so etwas zu sagen — keinen Ruf nach Rache! Wenn sie denn etwas hören, dann das alte Prophetenwort, dass es genug ist! Das kann man spüren in der ewigen Stille der Friedhöfe, die nicht ohne Grund so heißen. Und die aufsteigende archaische Energie der Rache ebbt dann etwas ab.

Es wird dauern. Alles hat seine Zeit. Alles braucht seine Zeit. Alles kommt. Und alles geht. Himmelhoch ist der Schmerz und abgrundtief. Eine Welle jagt die andere. Die Schmerzwellen werden nie aufhören, aber sie werden kleiner, flacher, bis sie enden als unaussprechliche Seufzer. Alles hat seine Zeit.

Im Schutz der Schwestern und Brüder, die uns die Zeit geschenkt haben, nicht aus unserer Mitte ver-rückt und gestoßen zu werden von diesem Schrecken, kehren wir langsam zurück zu uns selbst. Wir waren woanders. Wir sind andere. Wir sind andere geworden.

Und jetzt erheben wir uns langsam aus der Asche und fragen alle Welt, was nun werden soll mit unseren Wunden und den Wunden der anderen, damit niemand mehr auf dieser Welt das ertragen muss, was Menschen hüben und drüben ertrugen.

Wir werden miteinander reden müssen. Ist es schon so weit, dass wir es können?

Grauen und Kriege werden erst enden, wenn die Opferberge auf beiden Seiten nicht mehr geleugnet werden können und wir für uns Worte finden.


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